Der neue Mann (6): Tanzen, reiten, schwimmen - was Mädchen halt so tun

05.01.2015

Als ich sechs Jahre alt war, begann ich, im Verein Fußball zu spielen. Dynamo Görlitz II hieß die illustre Truppe. Kurz darauf kam ich in die Schule und besuchte nachmittags einen evangelischen Hort, weil meine Eltern beide in Vollzeit arbeiteten. Der Hort lag etwa eine halbe Stunde Fußweg von der Schule entfernt, was aber damals irgendwie nichts machte. Sowohl in den Hort als auch zum Fußballtraining ging ich allein.

Im Hort hatte ich zusätzlich dienstags Christenlehre - damit hatten sich meine "außerschulischen" Aktivitäten aber auch schon erledigt. Okay, mittwochs nach der Schule fand oft noch ein lästiger Pioniernachmittag statt und unsere Klassenleiterin nötigte mich, am jährlichen Rezitatorenwettstreit, der Mathe-Olympiade und am Crosslauf teilzunehmen. Insgesamt aber hatte ich nicht den Eindruck von Zeitmangel, Überlastung oder Freizeitstress. Im Gegenteil: Ich hätte wahrscheinlich spielend noch ein Instrument lernen können - rein zeitlich gesehen. Aber entweder hielten mich meine Eltern für krachend unmusikalisch oder kamen schlicht nicht auf die Idee, mich in der Musikschule anzumelden.

Heute können sich Eltern solche Nachlässigkeiten nicht mehr erlauben. Wenn ich mich etwa bei meinen Ballettmüttern so umhöre, sind sowohl körperliche als auch musische Fitness des Kindes sehr wünschenswert. Um nicht zu sagen: unerlässlich. Wie sollte eine Mutter auch sonst begründen, warum sie - obwohl Hausfrau - total überlastet ist? Würde sie nicht die sechsjährige Tochter und den vierjährigen Sohn abwechselnd zur Kung-Fung-Stunde, zum Gymnastiktraining oder Seepferdchenkurs fahren, hätte sie ja keinen Stress, schlimmer noch: Sie hätte Zeit. Dann könnte man ja nicht mehr auf den faulen Mann schimpfen und mit einer Tasse Tee in der Hand stundenlang anderen Ballettmüttern sein Leid klagen.

Je weiter deshalb die Stationen der verschiedenen Betätigungen auseinanderliegen, desto besser. Das kostet schließlich jede Menge Fahrzeit. Aufs Voltigieren verzichten, nur weil der Reiterhof jenseits der Stadtgrenze liegt? Kommt nicht in Frage. Wer weiß denn, ob sich das später nicht mal furchtbar rächt, wenn das Kind nicht im Kreis reiten kann?

So haben viele Kinder in Paulinas Alter an drei oder sogar vier Nachmittagen pro Woche leider keine Zeit, sich mit ihr zu verabreden. Sie hat nur am Freitag Ballett und muss an den anderen Tagen bis 16 Uhr im Hort vor sich hin vegetieren. Montags geht sie immerhin zum Schulchor. Doch Besserung ist in Sicht: In wenigen Tagen startet Paulinas zweite Aktivität, zu der wir sie begleiten dürfen: Sie geht dann zum Schwimmkurs. Kein Flötenunterricht, kein Voltigieren, nur Schwimmen. Leider ist das immer samstags.

Das heißt: Paulina wird in die Schwimmhalle gefahren. Neun Kilometer hin, neun zurück. In unserer Nähe war alles ausgebucht. Um einen Platz im Schwimmverein zu ergattern, musste ich mich am Anmeldetag um kurz vor acht mit klickbereiter Maus vor dem Computerbildschirm einfinden. Und dann, Punkt acht, die Anmeldemaske wurde freigeschaltet: Zack, geklickt, Platz gebongt! Für uns bedeutet das jetzt, jeden Samstag zu nachtschlafenener Zeit aufzustehen und zu versuchen, das einstündige Warten im Schwimmbad irgendwie sinnvoll zu nutzen. Ein Jahr lang soll das so gehen, das verlangt der Verein. Kein Crash-Kurs in den Ferien, nichts dergleichen.

Mal sehen: Vielleicht gehe ich während des Schwimmunterrichtes nicht wie geplant einkaufen, sondern bleibe in der Umkleide sitzen und gönne mir nach den Ballettmüttern noch die Schwimmmütter. Ganz neue Themen werden sich auftun. Ich vermute mal, dass ich dabei eine Menge über den Schutz vor Erkältungen, Unfallgefahren im Wasser und die kinderverachtende Härte mitteleuropäischer Schwimmlehrer lernen werde.