Der neue Mann (Teil 3)

25.09.2013

„Papa, darf ich Kikaninchen schauen, wenn Mama weg ist?“

Es ist morgens kurz nach sieben. Meine Tochter steht vor meinem Bett und schaut mich mit großen Augen an. Meine Frau ist schon im Bad und wird in zehn Minuten die Wohnung verlassen, weil sie um acht Uhr in der Redaktion sein will.

„Aber du bist doch krank, Schatz“, murmele ich schlaftrunken, „und kranke Kinder gehören ins Bett.

„Ach, biiiiitte“, orgelt Marie und muss gleich wieder husten. „Nur ein paar Stunden.“

Nun kann man von einer Viereinhalbjährigen wahrscheinlich nicht verlangen, den Unterschied zwischen einer Viertelstunde und dreieinhalb Stunden zu kennen. Doch Marie ist da anders: Wenn sie „ein paar Stunden“ sagt, dann meint sie das auch so. Schlimmer noch: Wenn sie nicht in die Kita kann, ich aber unbedingt an den Schreibtisch muss, lief der Kinderkanal schon manches Mal bis in den Vormittag hinein.

Ich sage mir dann, dass der KiKa einen öffentlich-rechtlichen Programmauftrag hat und die Grundversorgung sicherstellen soll – in diesem Fall halt für Kinder – und dass Super RTL, Nickelodeon und der Cartoon Channel die Kleinen mit ihrem Mega-Krawumm-Weltraum-Monster-Gedöns viel mehr verblöden. Klar: Der Kinderkanal ist letztlich auch Bespaßung, auch wenn sie in Gestalt des Kikaninchens, des blauen Elefanten oder von Feuerwehrmann Sam leicht verdaulich und sogar lehrreich daherkommt. Trotzdem weigere ich mich, ein schlechtes Gewissen zu haben.

Meine Theorie: Gar kein oder zu wenig Fernsehen ist auch keine Lösung. Woher soll ein Kind Medienkompetenz lernen, wenn es keine Medien konsumieren darf?

Kürzlich war Maries Freundin Lisa bei uns zu Besuch, die zu Hause nur Baby-Sendungen wie "Bob der Baumeister" anschauen darf. Marie wollte mit ihr den Cinderella-Trickfilm gucken, den sie weitgehend auswendig kennt. Doch schon bei der Eingangsszene, als Aschenputtel morgens von ihren Freunden, den Mäusen, geweckt wird, bekam Lisa Angst und wir mussten den Film wieder ausschalten. Angst bekam Lisa auch, als Isabella und ich vor kurzem auf Maries Geburtstagsfeier mit Handpuppen Kasperletheater spielten. Demnächst teste ich mal, ob Lisa auch vor einer Tageszeitung oder einem PC-Bildschirm Angst hat.

Nicht zu beneiden ist meine Frau. Einerseits findet sie es irgendwie bedenklich, dass Marie ziemlich viel vor der Glotze sitzt. Andererseits merkt sie, dass die Kleine davon profitiert. Marie beherrscht Wendingen wie "Das kannst Du laut sagen, Mama" und "Schlag' Dir aus dem Kopf, dass ich ins Bett gehe". Dank "Sendung mit der Maus" weiß sie, dass das Weltall unendlich ist und warum es Heizkraftwerke gibt. Isabella ist in der Zwickmühle: Selbst, wenn sie wollte - sie könnte wenig Unterstützung anbieten, da sie den ganzen Tag arbeitet. Da sie aber eine Frau ist, wird sie deutlich öfter als ich von anderen Müttern angesprochen. Isabella erfährt von ihnen erstaunliche Dinge. Dass Fernsehen passiv macht. Dass man Kinder auf keinen Fall überfordern darf. Dass es viel besser für ihre Entwicklung sei, wenn man Kinder fördert, indem man sie dauernd zum Karate-Training oder Pony-Reiten fährt.

Was für mich Belege der Überspanntheit werdender Helikopter-Eltern sind, bringt Isabella regelmäßig ins Grübeln: Was, wenn wir Marie schaden, ohne es zu wollen? Wenn Marie Alpträume bekommt oder gar Dauerschäden davonträgt? Ich schraube mich dann jedesmal aus meinem Schreibtischsessel hoch und appelliere an Isabellas gesunden Menschenverstand. Warum soll nicht beides gehen: Fernsehen und Ballett? Und würden wir es nicht merken, wenn das Fernsehen unserer Tochter schadet?

Genug davon. Ich gehe im Kopf kurz meinen Plan für den Tag durch: Das Exposé für mein nächstes Buch muss geschrieben werden, außerdem ist ein Ratgeber-Text abzugeben.

„Okay, Schatz“, ächze ich und setze mich im Bett auf. „Geh' schon mal ins Wohnzimmer. Aber heute höchstens eine Stunde.“

"Waaas? Nur eine Stunde?", fragt Marie empört, zockelt aber los. Scheinbar hält sie es für möglich, dass ich es mir anders überlege. Und das ist doch schon mal ein gutes Zeichen.