Ich sitze in einer dieser Senioren-Bars und blättere auf dem Tablet ein paar News durch. Die Kellnerin bringt mir meinen Tee. Die ist auch schon im Rentenalter, hätte man früher gesagt, doch jüngere Bedienungen sind Mangelware – und auch das Rentenalter gibt es nicht mehr. Wer nicht am Hungertuch nagen will, muss so lange arbeiten wie es irgendwie geht. Es sei denn, er erbt – doch dieses Glück trifft mit Vorliebe die, denen es ohnehin gut geht. Immerhin: Dass niemand mehr Ältere einstellt, wie es Anfang des Jahrhunderts gang und gäbe war, ist Vergangenheit. Viele Unternehmen würden sonst kaum noch Mitarbeiter finden.
Dass ich mal 90 werde, hätte ich auch nie gedacht. Um mich herum sind viele schon 100 – manche geradezu obszön rüstig. Sie haben immer gesund gelebt, sagen sie. Und genau das machen sie auch heute - es steht ihnen ja auch zu, sagen sie. Sie gehen natürlich nur in Bio-Restaurants, kleiden sich schadstoffrei und lassen ihre Haushaltshilfen Obst und Gemüse in einer dieser Erzeugerkooperativen einkaufen – ab und zu auch mal Fleisch. Wer es nicht so üppig hat, muss dagegen wie eh und je zum Supermarkt. Wenn ich mich recht erinnere, konnte man in meiner Jugend selbst als besser Situierter noch dort einkaufen. Heute, wo Begriffe wie „Industrie“, „Chemie“ und "Gentechnik" endgültig zu Schimpfwörtern geworden sind, verkehren dort nur noch arme Leute.
Alt und arm – davon gibt es ganze Heerscharen. Nichts fürs Alter zurückgelegt, jetzt haben sie den Salat. Andererseits: Wovon sollte ein Arbeitsloser damals Geld zurücklegen? Der Staat zahlte schon früher nur das Nötigste. Als irgendwann auch die Rentenversicherung zusammenbrach, taten alle ganz überrascht. Als hätte man sich das nicht denken können. Kinder? Wer überhaupt welche hat, hat sie aus dem Blick verloren. Sie sind längst erwachsen und leben meist in der ganzen Welt verstreut. Wurde man früher von seinem Arbeitgeber noch nach London oder New York geschickt, geht es heute nach Shongqing oder Shenyang in China, nach Delhi oder Sao Paulo. Dort ist das Geld, dort findet das Leben statt, dort gibt es jede Menge junge Leute. Die wissen gar nicht wohin mit ihren Arbeitskräften.
Deutschland dagegen ist ein einziges großes Altenheim. Fachleute müssen teuer eingekauft werden. Man sieht kaum noch Jüngere – und wenn, dann ist man regelrecht erstaunt. Kindergeschrei habe ich lange nicht mehr gehört.
Wann hat das angefangen? Wann haben wir uns so verrechnet? Das muss vor 40, 50 Jahren gewesen sein, als plötzlich keiner mehr Kinder wollte. Zu teuer, hieß es, zu anstrengend und vor allem: Karrierekiller. Wer sich um Kinder kümmern muss, ist für Unternehmen ein Risikofaktor: abgelenkt, nicht mehr permanent verfügbar und latent widerspenstig.
Mal ins Netz schauen: Da – im November 2013 meldete das Statistische Bundesamt, dass nur noch 80 Prozent der Frauen zwischen 40 und 44 Jahren Kinder hätten, von den gut ausgebildeten Frauen in Großstädten aber nur noch die reichliche Hälfte. Ich erinnere mich: Damals dachten wir schon, dass sei besorgniserregend – aber wir irrten uns gründlich. Das war erst der Anfang. Heute sind die wenigen Kinder vor allem eines: Statussymbole. Auf der einen Seite für Armut, auf der anderen für Reichtum.
Still ist es geworden in Deutschland und freudlos. Das haben wir davon. Jetzt hocken wir aufeinander, wir Alten, und trösten uns mit dem von unseren Wirtschaftswundereltern geerbten Geld. Wenn schon nicht zufrieden, sind wir wenigstens wohlhabend.